Orpheus am Eingang zum Berliner Unterwelt am U-Bahnhof Moritzplatz in Kreuzberg

Orpheus am Eingang zur Berliner Unterwelt. Ein edler Philosoph sprach von der Baukunst als einer erstarrten Musik und mußte dagegen manches Kopfschütteln gewahr werden. Wir glauben diesen schönen Gedanken nicht besser nochmals einzuführen, als wenn wir die Architektur eine verstummte Tonkunst nennen.
Man denke sich den Orpheus, der, als ihm ein großer wüster Bauplatz angewiesen war, sich weislich an dem schicklichsten Ort niedersetzte und durch die belebenden Töne seiner Leier den geräumigen Marktplatz um sich her bildete. Die von kräftig gebietenden, freundlich lockenden Tönen schnell ergriffenen, aus ihrer massenhaften Ganzheit gerissenen Felssteine mußten, indem sie sich enthusiastisch herbeibewegten, sich kunst- und handwerksgemäß gestalten, um sich sodann in rhythmischen Schichten und Wänden gebührend hinzuordnen. Und so mag sich Straße zu Straßen anfügen! An wohlschützenden Mauern wird’s auch nicht fehlen.
Die Töne verhallen, aber die Harmonie bleibt. Die Bürger einer solchen Stadt wandlen und weben zwischen ewigen Melodien; der Geist kann nicht sinken, die Tätigkeit nicht einschlafen, das Auge übernimmt Funktion, Gebühr und Pflicht des Ohres, und die Bürger am gemeinsten Tage fühlen sich in einem ideellen Zustand: ohne Reflexion, ohne nach dem Ursprung zu fragen, werden sie des höchsten sittlichen und religiosen Genusses teilhaftig. “…”
Der Bürger dagegen in einer schlecht gebauten Stadt, wo der Zufall mit leidigem Besen die Häuser zusammenkehrte, lebt unbewußt in der Wüste eines düstern Zustandes; dem fremden Eintretenden jedoch ist es zumute, als wenn er Dudelsack, Pfeifen und Schellentrommeln hörte und sich bereiten müßte, Bärentänzen und Affensprüngen beiwohnen zu müssen.”
(Johann Wolfgang von Goethe – Maximen und Reflexionen, Über Kunst und Kunstgeschicht) Dieser apollinisch-dionysisch Standpunktist ist ja durchaus Ansichtssache und gibt genug Anlaß zur Diskussion. Einmal Goethes Gedanken folgend, müssten wahrscheinlich neunzig Prozent aller megalomanischen Bau- und Immobilienprojekte der letzten Jahre (hier vor allem Staats- und Landesprojekte), in und um Berlin herum, in einer infernalischen Klangsymphonie untergehen.

[Leica CL, Summicron-C 40mm f/2, Kodak Professional Porta 400]